Wendezeit

Wir stehen vor einem nie dagewesenen Zerfall. Altes wird abgeschafft, Neues wird eingeführt. Am Scheideweg angekommen, geht es im Gesundheitswesen um philosophisch-ethische Fragen, wie: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Und wo ist die Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen?

Wir haben Mittwoch. Einer der Tage, aus denen man vom Arbeitspensum her zwei machen sollte. Geht aber nicht. Bis heute Abend müssen die Holzdielen im Wohnzimmer abgeschliffen sein, weil morgen der Maler kommt. Hinzu kommt, dass mir die Redaktion im Nacken sitzt, die meinen Artikel haben möchte. Wie ich das alles schaffen soll? Keine Ahnung! Bevor ich loslege, will ich noch den Newsletter PKV-Morgenvisite überfliegen, der seinen Leser:innen einen gesundheitspolitischen Medienüberblick bietet. Ein Artikel vom Ärzteblatt erhascht meine Aufmerksamkeit: Der Deutsche Ärztinnenbund und weitere Institutionen fordern, dass Frauen in „… allen Gremien, die Entscheidungen für die Menschen in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung treffen“, paritätisch vertreten sein sollen[1].  Es geht um mehr als Chancengleichheit, nämlich um die inhaltliche Arbeit an systemrelevanten Fragestellungen, wo Frauen mehr Einfluss für einen als nötig angesehenen, kulturellen Wandel im Gesundheitssystem verlangen.

Diese Forderung ist meines Erachtens längst überfällig.Gremien, die überwiegend von Männern besetzt sind, beraten und entscheiden beispielsweise darüber, welche Heilanbieter oder psychotherapeutischen Methoden von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anerkannt und abgerechnet werden. Die Institutionen sind der Überzeugung, dass das Gesundheitssystem leistungsfähiger wird, wenn Frauen bei systemrelevanten Fragestellungen mitwirken. Was sie genau verändern und verbessern wollen, gibt der Artikel nicht her. Ob es das weibliche Geschlecht ist, das die nötige Wende bringt, ist fraglich. In meinen Augen kann das erkrankte Gesundheitssystem nur leistungsfähiger werden, wenn Männer und Frauen aufhören so zu tun, als würde der Mensch einer linearen, mechanistischen Logik folgen.

Mechanistische Medizin

Der Begriff mechanistisch hat seine Wurzeln im späten Mittelalter, um das Jahr 1640 herum. Der Ideengeber war René Descartes (*1596, † 1650), ein französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Fritjof Capra hat in seinem Buch „Wendezeit“ die Entstehung des mechanistischen Paradigmas[1]  ausführlich nachgezeichnet. Im Alter von 23 Jahren hatte Descartes eine plötzlich aufflammende, intuitive Erkenntnis, die er als göttliche Eingebung und Auftrag verstand: Er fühlte sich berufen, eine neue Wissenschaft zu erschaffen, die „Wahrheit“ von „Irrtum“ trennt. Seine Herangehensweise wird als radikales Zweifeln beschrieben. Folglich definierte er Wissenschaftlichkeit so: „Wir lehnen alles Wissen ab, das nur wahrscheinlich ist, und meinen, dass nur die Dinge geglaubt werden sollten,  die vollständig bekannt sind und über die es keinen Zweifel mehr geben kann“. Descartes hatte eine klare Herangehensweise, wie er Wahrheit von Irrtum, also richtig von falsch trennen wollte, die lautet: „Ich lasse keine von ihnen als wahr gelten, die nicht mit der Klarheit mathematischer Beweisführung aus allgemeinen Vorstellungen abgeleitet ist, deren Wahrheit nicht angezweifelt werden kann“ (Capra, S. 55ff). In anderen Worten: Alles, was nicht mit der Mathematik bewiesen werden konnte, galt in seinen Augen als „falsch“ oder „unbedeutend“.

Descartes verbreitete die Vorstellung, dass der Mensch – wie das restliche Universum auch –wie eine Maschine funktioniere und vertrat die These, dass es zwischen Körper und Geist keine Interaktion gibt. Will man eine Maschine, wie beispielsweise das Schleifgerät für die Holzdielen, verstehen, so muss man sie logischerweise in ihre materiellen Einzelteile zerlegen und den Mechanismus der Einzelteile verstehen. Versetzen wir uns in die Logik jener Zeit hinein, dann könnte man überspitzt sagen: Man nehme zwei Leichen und tausche die kaputten Organe der einen durch die funktionsfähigen der anderen aus und voilà, die „Maschine Mensch“ funktioniert wieder. Wenn dem so wäre, dann wäre der Mensch unsterblich. Das ist kein Scherz, so haben die Anhänger dieser Theorie tatsächlich gedacht. Descartes lieferte die Philosophie für das mechanistische Weltbild der Naturwissenschaft, welches durch Isaac Newton (*1642, † 1727) und seine Principia Mathematica in die Köpfe der Gesellschaft „eingepflanzt“ wurde und damit den Wechsel vom kirchlichen hin zum mechanistischen Paradigma einläutete.

Im Prinzip wird in der Naturwissenschaft auch heute noch gearbeitet, wie Descartes und Newton es gefordert hatten: Der letzte Argumentationspunkt ist immer die Mathematik. Wir erklären Biologie (auch den Menschen) durch Chemie, Chemie durch Physik und Physik durch Mathematik. Die Problematik dieser reduktionistischen Betrachtungsweise ist, dass die Kausalkette zwischen Ursache und Wirkung an der Stelle künstlich unterbrochen wird, wo die mathematische Beweisführung an ihre Grenzen stößt.

Die Existenz der Botenstoffe konnte zur Zeit von Descartes und Newton noch nicht bewiesen werden. Entdeckt wurden die Hormone im Jahre 1902, zwanzig Jahre später folgte der erste Nervenbotenstoff (Neurotransmitter), das Acetylcholin. Weitere knapp dreißig Jahre später, im Jahre 1950, wurde der Botenstoff Dopamin entdeckt, der heutzutage als „Allroundgenie“, „Sündenbock“ und angebliche „Ursache“ für allerlei psychische und seelische Störungen herhalten muss. Die Ära der Psychopharmaka war damit eröffnet, mit Chlorpromazin kam 1952 das erste Neuroleptikum („Nervendämpfungsmittel“) auf den Markt, das erste Antidepressivum folgte im Jahre 1958.

Unsere Gefühle, unbewussten Motive und Gedanken, die mit unserem Verhalten und Wohlbefinden einhergehen, befinden sich auch heute noch jenseits naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Das ist auch der Grund, wieso in Deutschland oder den USA schnell zur Psychopille gegriffen wird, wenn Erwachsene depressiv oder Kinder zappelig und ängstlich sind.

Wenn wir seelische Störungen verstehen wollen, dürfen wir nicht so tun, als wäre der Mensch eine Maschine. Verständnislos blicke ich auf die Schleifmaschine und denke: Ich habe noch nie von einer Maschine gehört, die Depressionen bekommt, weil sie tagein, tagaus eintönige Arbeit verrichtet oder gar wochenlang unbeachtet im Keller steht.

Im bereits genannten Buch „Wendezeit“ wird  das mechanistische Weltbilds mit all den Dingen, die deshalb falsch laufen, ausführlich beschrieben.

Nach der Lektüre dachte ich: „Lächle und sei froh, das Menschenbild kann nicht schlimmer kommen“, und ich lächelte und irrte, denn es kam schlimmer…!

Transhumanismus

Welche Anschauung sich hinter dem Begriff Transhumanismus (von lateinisch trans = über, hinaus und humanus = menschlich) verbirgt, war mir lange Zeit nicht bekannt. Im Kern ist es eine heterogene Denkrichtung, die von unterschiedlichen Interessengruppen vertreten wird. Alle transhumanistischen Aktivitäten vereint, dass sie eine Leistungssteigerungder körperlichen, geistigen und / oder psychischen Möglichkeiten erreichen wollen,nach heutigen Begriffen somit auch der Leistung gesunder Menschen[2].  Im besten Fall wollen Transhumanisten Krankheiten, Leiden und Körperschäden lindern oder heilen, im schlechtesten eine Art Mensch-Maschine-Wesen erschaffen und so die Subjekthaftigkeit des Einzelnen eliminieren.

Beginnen wir mit der Utopie: Der Visionär Elon Musk forscht mit seinem Unternehmen Neuralink seit 2016 auch im Bereich der Medizin. Seine Vision: Querschnittsgelähmte Menschen sollen mit Hilfe von Exoskeletten und Brain-Computer-Interfaces (BCI) wieder laufen lernen. Eine Software im Gehirn soll die dafür nötigen Bewegungsimpulse auslösen.  Solange High-Tech angewendet wird, um mechanische Defekte zu „reparieren“, sehe ich keine ethischen Probleme. Wo ist die Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen?

Ein Twitter-Follower von Musk geht einen Schritt weiter. Er will wissen, ob Computer-Chips auch jene Bereiche des Hirns „umtrainieren“ können, die bei seelischen Störungen, wie beispielsweise einer Depression aktiviert werden, und ob sich diese Störung dadurch heilen ließe. Musk antwortet optimistisch: „Natürlich. Alles, was wir je gefühlt und gedacht haben, sind elektrische Signale“, also Energie.[3][H1]  Die Energie in unserem Gehirn ist aber nicht mit der Energie aus der Steckdose zu vergleichen, die meine Schleifmaschine antreibt!

Energiereiche Information

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der Biologe und Informationswissenschaftler Tom Stonier. Im Prolog seines Buches „Information und die innere Struktur des Universums“ schreibt er: „Materie und Energie bestimmen die äußere Struktur des Universums. Die äußere Struktur des Universums ist unseren Sinnen leicht zugänglich. Die innere Struktur ist weniger offenkundig. Ihre Organisationsweise entzieht sich unserer Wahrnehmung. Sie besteht nicht nur aus Materie und Energie, sondern auch aus Information.“ (Stonier, 1991).

Wenn wir unser Fühlen, Denken, Reden und Handeln und das damit einhergehende Wohlbefinden unserer Seele besser verstehen wollen, dann müssen wir neben Materie und Energie auch Information als dritte wissenschaftliche Größe in Betracht ziehen, denn: Solange der Mensch fühlt, denkt, atmet und sein Herz das Blut durch den Körper pumpt, interagieren diese drei Größen miteinander, was als Informationsaustausch oder Lernen gewertet werden kann.

Die Mathematikerin Dr. Claudia Hemmelmann teilt den Hype um die Aussagekraft der Mathematik in der Heilkunde nicht und äußert mir gegenüber: „Nur, weil etwas nicht naturwissenschaftlich ist, muss es nicht unwissenschaftlich sein“ und ermutigt uns, den Menschen ganzheitlich mit seinen Gedanken und Gefühlen zu beforschen.

Genau genommen ist das, was die elektrischen Signale übermitteln, eine „strukturierte Energie“, die ich in Anlehnung an Stonier (1991, S. 57) als energiereiche Information“ bezeichne. Wichtig für das Verständnis von Heilung ist, dass Energie und Information in Wechselwirkung zueinander stehen.

Ein Blick in die Zukunft

Die Zeit hat eine Vergangenheit, auf die wir zurückblicken können, eine unendlich kurze Gegenwart, aber keine Zukunft. Wenn wir in die Zukunft blicken, ist es lediglich eine Extrapolation unseres Gehirns über den erwarteten Verlauf. Veränderungen passieren täglich, große Veränderungen passieren an Scheidewegen.  

Ich bin der festen Überzeugung, dass die leistungsfähigste Therapie diejenige ist, die die energiereiche Information im Gehirn transformiert. Dafür bedarf es aber keines Chips im Gehirn, sondern lediglich einer Art „Virtual Reality-Therapie“, die unser individuell-soziales Ich (obere limbische Ebene) von unbewussten Ängsten und Zwängen (untere und mittlere limbischen Ebene) befreit. Die ethische und juristische Grenze wird in meinen Augen überschritten, wenn eine Software neue Ängste und Zwänge einpflanzt, die geeignet sind, den autonomen Willen eines Menschen neuropsychologisch „auszuschalten“ und ihn so zu einem willenlosen Objekt zu degradieren (siehe mein Artikel Unantastbar, Praxis Kommunikation 4/2021). Wenn unser Gesundheitssystem leistungsfähiger werden soll, dann benötigen wir zuallererst eine neue Wissenschaftsdisziplin. Eine, die die Wechselwirkungen der drei wissenschaftlichen Größen „Materie, Energie und Information“ beforscht und die Subjekthaftigkeit des Menschen achtet. 

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FUSSNOTEN

[1] www.arzteblatt.de; Verbände drängen auf Geschlechterparität für Körperschaften vom 27. September 2022

[2] Das Wort Paradigma stammt aus dem Griechischen. Paradigma bedeutet „Modell“, „Muster“ und wird aus Denkweisen, Lehrsätzen, Hypothesenbündeln und theoretischen Konzepten geformt. Ein Paradigma spiegelt nicht die objektive Wirklichkeit, sondern allgemein anerkannte Auffassungen eines Systems (z.B. die einer Gesellschaft) oder Sub-Systems (z.B. Gesundheitswesen) wider, die für die Lösung von (wissenschaftlichen) Fragestellungen über einen längeren Zeitraum prägend war. 

[3] www.juraforum.de

[4] www.derstandard.de, 15. Juli 2020

Fritjof Capra: Wendezeit, Scherz Verlag, Bern, 1982
Tom Stonier: Information und die innere Struktur des Universums, Springer Verlag, 1991
www.monikahoyer.de/entwicklungsraum
www.monikahoyer.de/wuerde

WEITERE QUELLEN

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