Die Lehre der Temperamente im Wandel der Zeit

Temperament oder doch nur Typisierung? Bei näherer Betrachtung ähneln die Ergebnisse der kursierenden Lehren einem grünen Smoothie, der wenige Rückschlüsse auf die verwendeten Zutaten zulässt.

Jeder Mensch ist mit einem Temperament ausgestattet. Angela Merkel hat ein Temperament. Jens Spahn und Donald Trump haben ein anderes. Du natürlich auch. Aber was ist das Temperament?

Umgangssprachlich drückt sich seine Wirkung in Sätzen aus wie: „Der hat ein schwieriges Temperament“, oder: „Sein Temperament ist mit ihm durchgegangen.“

Aber was ist es genau?

Unabhängig von der Epoche wird das Temperament ganz allgemein als das Bestreben verstanden, umweltstabile Faktoren von der Gesamtpersönlichkeit zu isolieren, die als angeborene oder vorcodierte Muster der reinen Ich-Identität bezeichnet werden können.

Vereinfacht gesprochen handelt es sich dabei um Muster in unserem Fühlen, Denken, Reden und Handeln, die als fester Bestandteil unserer Persönlichkeit gelten. Muster, die der Mensch als Ich-synton (also zum Ich gehörig) empfindet und nicht über seine Umwelt erlernt oder über das Unterbewusstsein seiner Sippe übertragen bekommen hat.

Diese unbewussten Muster waren offensichtlich schon bei der Geburt vorhanden, wurden dann im Laufe des Lebens lediglich ausgeformt.

Wagen wir einen kritischen Blick in die Lehren, die unter dem Begriff „Temperament“ im Wandel der Zeit entstanden sind:

Lehre 1# Die Antike Temperamentenlehre

Die Anfänge der Temperamentsforschung bildet die Vier-Säfte-Lehre, die von dem griechischen Arzt Hippokrates (ca. 460 bis 370 v. Chr.) entwickelt wurde. Nach der Lehre des Hippokrates entsteht Krankheit durch ein Missverhältnis der im Leib vorhandenen Säfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle).

Jahrhunderte später verknüpfte Galenos von Pergamon (ca. 130 bis 200 n. Chr.) die Vier-Säfte-Lehre mit der Lehre der vier Temperamente: den Sanguinikern, Phlegmatikern, Cholerikern und Melancholikern. Charaktere, die auch heute noch gebräuchlich sind.

Er stellte als Erster einen Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen und Konstitutionstypen (Charaktereigenschaften) her. Galenos war quasi der Vorreiter der modernen Psychosomatik und entwickelte die erste, die sogenannte antike Temperamentslehre.

Die antike Temperamentenlehre hat im Laufe der Geschichte eine unterschiedliche Bedeutung zugewiesen bekommen. Während die Lehre in ihrer Gesamtheit abgelehnt wird, hielt sich der Kern der Aussage bis in die Neuzeit hinein. So wird auch heute noch der gut durchblutete, rasch reagierende, temperamentvolle Macher als Sanguiniker, ein bedächtiger, langsam sprechender und handelnder als Phlegmatiker bezeichnet. Der Choleriker ist aufbrausend und schnell dabei, Ärger und Wut laut auszudrücken, eine schwere Form der Depression dagegen wird als Melancholie bezeichnet.

Das mittelalterliche Wort Melancholie ist nichts anderes als unsere heutige Depression, die mit seinen griechischen Wortbestandteilen mélas – schwarz und cholé – Galle auf seine antiken Wurzeln hinweist. Depression ist somit keine Zivilisationskrankheit, es gab sie quasi schon immer.

Erst viele Jahrunderte später gab es neue Forschungen und damit auch neue Lehransätze, die in Abgrenzung zu Hippokrates als „modern“ galten.

Lehre 2# Die Moderne Temperamentenlehre

Im Jahre 1921 führte der Neurologe und Psychiater Ernst Kretschmer eine eigene Typenlehre ein. Er teilte seine Patienten in Leptosome, Pykniker, Athleten und Astheniker ein, um diesen körperlich charakterisierten Typen seelische Eigenschaften zuordnen zu können. Die fünfte Gruppe nannte er die Dysplastiker, die keiner der vorgenannten zugeordnet werden konnten. Seine Arbeit wurde aber schon damals aus den eigenen Reihen als methodisch unzureichend kritisiert.

Das Thema „Temperament“ ist auch heute noch ein weltweites, riesiges Forschungsgebiet mit unzähligen universitären Autoritäten wie Thomas und Chess, Buss und Plomin sowie Rothbart, Asendorf oder Goldberg.

Das zurzeit bekannteste Modell für Persönlichkeitsmerkmale ist das Big Five, welches in Deutschland auch unter dem Namen Fünf-Faktoren-Modell (FFM) bekannt ist. Hinter dem Begriff Big Five verbirgt sich ein lexikalischer Ansatz, der seit 1930 entwickelt wurde und davon ausgeht, dass sich die Persönlichkeit in der Sprache finden lässt. Auf der Basis von Listen mit anfänglich über 18 000 Adjektiven (aus Webster´s New International Dictionary) wurden über die Jahre fünf unabhängige und weitgehend kulturstabile Grunddimensionen oder Basistendenzen der menschlichen Persönlichkeit identifiziert. D.h., es wurden Wörterbücher nach Begriffen durchsucht, die in der Lage sind, unsere Persönlichkeit zu beschreiben.

Diese fünf gefundenen Faktoren werden in den Kategorien Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und soziale Verträglichkeit zusammengefasst. Auf der Grundlage des Fünf-Faktoren-Modells wurden unterschiedliche Persönlichkeitstests wie der NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI als Kurzform, NEO-PI-R als längere Version) entwickelt, welche in ihren unterschiedlichen Fassungen von Psychologen oder Karriereberatern im Sinne der Selbstreflexion und Potenzialberatung eingesetzt werden.

Das Fünf-Faktoren-Modell wird von der wissenschaftlichen Psychologie zwar anerkannt, ist aber ebenso wenig in der Lage, das Temperament zu bestimmen. Es ist vielmehr als Persönlichkeitsdiagnostik zu verstehen. Wie für die Schulmedizin üblich, wird auch hier an der Symptomebene, geforscht.

Lehre 3# Myers-Briggs Typenindikator (MBTI)

Der MBTI ist ein Persönlichkeitsinstrument auf Basis der Typologie Carl Gustav Jungs aus den 1920er-Jahren, der von Katharine Briggs und ihrer Tochter Isabel Myers von Jungs acht Typen auf sechzehn erweitert wurde.

Hier wird das Wort Temperament gar nicht mehr verwendet, sondern von Typologien gesprochen. In den USA ist dieser der mit Abstand am meisten genutzte Persönlichkeitstest im Personalwesen und Coaching. Und das, obwohl die Persönlichkeitsdimensionen nicht ausreichend definiert sind und die Einteilung auf sechzehn Typen ohne Abstufungen erfolgt. Den Anforderungen der wissenschaftlichen Psychologie wird dieser Test nicht gerecht.

Lehre 4# Persönlichkeits-System-Interaktion (PSI)

Ein Newcomer aus dem Bereich der Persönlichkeitsdiagnostik ist Professor Dr. Julius Kuhl von der Universität Osnabrück. Im Gegensatz zu anderen Verfahren werden mit seiner Methode keine Typen gebildet, sondern rund hundert isolierte Persönlichkeitsmerkmale gemessen, die das individuelle Verhalten der Person in bestimmten Situationen beschreiben. Der Test befasst sich unter anderem mit den Themen persönliche Selbstdisziplin, Willensstärke, konstruktiver Umgang mit Misserfolgen, unbewusste Motivationsstruktur und zeigt deren Entwicklungsfelder im Vergleich zu Testpersonen im Rahmen einer Normalverteilung auf.

Ich habe diesen Test im Jahre 2010 für mich erstellen lassen. Aus reiner Neugierde. Als Ergebnis einer rund 3-stündigen Online-Befragung bekam ich ein 33-seitiges Dokument mit Säulen und Zahlen, das ich ohne die Hilfe meiner geschulten Beraterin nicht hätte verstehen können.

Auszug aus dem PSI-Gutachten von Marianne Musterfrau

Aber auch hier gilt, dass der Kuhl-Test nicht in der Lage ist, die umweltstabilen Muster des Temperaments von den umweltlabilen Verhaltensmustern zu trennen. Beim PSI-Test wird vielmehr eine Art „fließende Gesamt-Identität“ zu einem Stichtag dargestellt, die mit einer statistischen Norm verglichen wird.

Wer kennt die „geheimen Zutaten“?

Es muss festgestellt werden, dass auch nach über zweitausendjährigen Bemühungen die moderne Wissenschaft des 21. Jahrhunderts keinerlei Modell hat, welches das Temperament erklären kann. Wer bisher glaubte, in der Fachliteratur der Wissenschaft präzise Antworten zu finden, die uns Rückschlüsse darauf geben, wie Angela Merkel, Jens Spahn oder Donald Trump „wirklich“ ticken, wird enttäuscht.

Der größte Kritikpunkt aus Sicht der Neurowissenschaftler wird darin gesehen, dass sich bei allen existierenden Modellen umweltstabile Einflüsse (untere limbische Ebene) und umweltlabile Einflüsse (mittlere und obere limbische Ebene) vermischen. Die Wissenschaft (aus Sicht der Neurowissenschaft) somit keine Temperamentenlehre besitzt.

Die Ergebnisse der kursierenden Lehren ähneln vielmehr einem grünen Smoothie, der wenige Rückschlüsse auf die verwendeten Zutaten zulässt. Die Wissenschaftler beobachten das Püree, das aus dem Mixer rauskommt. Sie haben aber keine Kenntnis von dessen Zutaten oder dem Rezept.

Wenn du das Temperament von Angela Merkel, Jens Spahn oder dein eigenes entschlüsseln möchtest, dann benötigst du eine andere Herangehensweise. Eine, die die vorcodierten Muster der Ich-Identität entschlüsselt, die auf deren Fühlen, Denken, Reden und Handeln aus der unteren limbischen Ebene heraus als umweltstabile Merkmale wirken.

Das Temperament muss stark vereinfacht gesprochen als ein bipolarer Entwicklungsraum von unbewusst wirkenden Mustern verstanden werden, in dem sich die Ich-Identität im Rahmen seiner Möglichkeiten frei entfalten kann. Dieser Raum von Mustern vermittelt uns das Gefühl: „Ja, so bin ich. Das ist ein Teil von mir.“

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