In Deutschland herrscht seit Jahren ein Mangel an Psychotherapeuten. Und das nicht erst, seit unser Gesundheitssystem die Herausforderungen traumatisierter Flüchtlinge stemmen muss. Die Wartezeit für eine Psychotherapie betrug 2011 knapp 23,4 Wochen, 2018 schaut es laut einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer
„Wir haben jetzt die Chance, Dinge zu erproben – und wegzukommen von der Sicht, dass jede Intervention einen Psychiater oder Psychologen erfordert.“ Er stellt sich ein bedarfsgerechtes Netz von Helfern vor, das von „Gesundheitslotsen“ bis hin zu „behandelnden Trauma-Beratern mit Migrationshintergrund“ reicht.
Diese Regelungen möchten Bajbouj und Kollegen geändert haben. In die entgegengesetzte Richtung von der, die Bajbouj und Kollegen einschlagen möchten, drängen Politiker aus FDP und CDU. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ließ im Herbst 2019 ein Rechtsgutachten ausschreiben, das die Abschaffung oder zumindest Einschränkung des Heilpraktikerberufes, somit auch die des psychotherapeutischen Heilpraktikers, prüfen soll.
Und auch das Heilpraktikergesetz selbst, das die Ausübung der Heilkunde regelt, verhindert eine „schnelle Lösung in der Not“. In § 1 (1) HeilprG steht: „Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben will, bedarf dazu der Erlaubnis.“ Eine solche Erlaubnis erteilt nach Prüfung das Gesundheitsamt. Weil Bajbouj und Kollegen mit ihrem Vorschlag bislang scheiterten, lautet die Frage jetzt, wie können professionelle Coaches eigenverantwortlich das Gesundheitssystem entlasten? Und kämen Coaches in Konflikt mit dem Heilpraktikergesetz, wenn sie etwa traumatisierten Flüchtlingen ein stresslösendes Coaching anbieten, wie sie es mit ihrer üblichen Klientel tun? Für eine Antwort zu dieser Frage habe ich mich mit Rechtsanwalt Jari Hansen beraten.
Wer legt fest, was Heilkunde ist?
In der Bundesärzteordnung oder der Approbationsordnung sucht man vergeblich nach einer juristisch aufschlussreichen Definition für „Heilkunde“. Fündig wird man ausschließlich im Paragraph 1 Absatz (2) des Heilpraktikergesetzes. Dort heißt es (Heraushebung durch die Autorin):
„Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes ist jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird.“
§1 (2) Heilpraktikergesetz
Wer gelernt hat, juristische Texte zu lesen, der ist an dieser Stelle klar im Vorteil. Ich schlage die „Abhak-Technik“ vor, um die rätselhafte Sprache zu entschlüsseln. Der obige Gesetzestext bildet eine Art „Logikkette“ von fünf Prüfpunkten, die mit je einem Unterpunkt erfüllt sein müssen, damit „Heilkunde“ im Sinne des Gesetzes vorliegt. Das heißt, wenn pro Prüfpunkt auch nur ein grünes Häkchen gesetzt werden kann, handelt es sich bei der Tätigkeit des Coaches unter Heilkunde (im Sinne des Gesetzestextes) und müsste gesondert erlaubt werden. Ergänzt werden die Prüfpunkte um einen richterlichen „Korrektivpunkt“, nachzulesen in BGH-Urteilen. Beginnen wir von vorn.
Die fünf Prüfpunkte
Prüfpunkt 1: Was genau bedeutet „berufs- oder gewerbsmäßig“?
Berufsmäßig ist jede Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und nachhaltig betrieben wird. Ist Wiederholungsabsicht vorhanden, reicht schon eine einzige Behandlung aus, um diese als berufsmäßig einzustufen. Und zwar auch dann, wenn sie unentgeltlich vorgenommen wird.
Gewerbsmäßig ist jede Tätigkeit, die gegen Entgelt vorgenommen wird. Der Begriff gewerbsmäßig schließt freie Berufe mit ein. Entgeltliches Handeln liegt auch dann vor, wenn die Dienstleistung mit Naturalien oder als Tauschgeschäft entlohnt wird.
Es ist anzunehmen, dass mindestens eine der beiden Beschreibungen auf die ausgeübte Tätigkeit der Coaches zutrifft, womit der erste Prüfpunkt sogar bei ehrenamtlich arbeitenden Helfern erfüllt sein dürfte. Ausgenommen sind selbstlose Hilfeleistungen in Notfällen, pflegende und heilende Tätigkeiten innerhalb der eigenen Familie und „therapeutische“ Gespräche im religiösen Kontext.
Prüfpunkt 2: Was meint der Gesetzgeber mit „Tätigkeit“?
Grundsätzlich ist jede Tätigkeit gemeint – unabhängig von der Methode. Und zwar egal, ob diese ehrenamtlich, freiberuflich oder im Angestelltenverhältnis, fachsprachlich „im Dienste von anderen“, ausgeübt wird.
Auch bei Prüfpunkt 2 wird dann ein Häkchen fällig, wenn sich der Anbieter „Flüchtlings-Coach“ nennt, seine Methode „Health-Coaching“ heißt oder gar keinen Namen hat.
Prüfpunkt 3: Was ist konkret mit „Menschen“ gemeint?
Die Tätigkeit wird am Menschen ausgeübt. Das Gesetz gilt somit nicht für die Heilkunde an Tieren. Egal ob es sich um Urlauber aus Südamerika, deutsche Bürger mit anderer Staatsangehörigkeit oder Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung handelt – gemeint sind alle Menschen! Der dritte Prüfpunkt gilt also als erfüllt, sobald die Tätigkeit am Menschen ausgeübt wird.
Prüfpunkt 4: Was versteht die Rechtsprechung unter „Feststellung, Heilung oder Linderung“?
Feststellung ist der Vorgang der Anamnese und der Diagnose.
Heilung wird als die Beseitigung von Krankheiten, Leiden und Beschwerden psychischer und physischer Art verstanden.
Als Linderung gilt sowohl das Herabsetzen (Mindern) der durch die Krankheit hervorgerufenen subjektiven Beschwerden als auch die Besserung der messbaren Befunde, ohne dass es zu einer echten Heilung kommt.
Nun stellt der Bundesgerichtshof (BGH) nicht die Selbsteinschätzung des Anwenders, sondern die Wahrnehmung des Nutzers in den Mittelpunkt seiner Bewertung. In Strafverfahren hat sich die vom BGH entwickelte sogenannte „Eindruckstheorie“ durchgesetzt, bei dem das subjektive Empfinden des Patienten oder Klienten maßgeblich ist. Es reicht bis auf einige Ausnahmen, wenn der Eindruck erweckt wird, dass dem Klienten Heilung oder Linderung widerführe. Von der Eindruckstheorie ausgenommen ist die „rituelle“ Art der „Heilung“ etwa durch Geistheiler, Reiki oder schamanische Rituale. Und zwar, weil sie so extrem von einem „echten“ ärztlichen oder psychotherapeutischen Vorgehen abweichen, dass der Eindruck einer Heilbehandlung gar nicht entstehen kann. Coaches werden weder Anamnesen und Diagnosen erstellen noch eine Heilung versprechen. Doch mindestens wird als Ziel „Linderung“ anvisiert und auch vom Klienten erwartet werden, womit unter Prüfpunkt 4 ein „Häkchen“ zu setzen ist.
Prüfpunkt 5: Was versteht die Rechtsprechung unter „Krankheit, Leiden und Körperschäden“?
Als Krankheit wurde vom Bundesgerichtshof (BHG, Zivilsachen amtliche Sammlung 44, 208) jede, also auch eine nur unerhebliche oder vorübergehende (akute) Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers beschrieben, die geheilt oder gelindert werden kann und die nicht nur eine normale Schwankung der Leistungsfähigkeit darstellt. Für die Beurteilung, ob eine psychische (oder seelische) Krankheit vorliegt, hat die WHO das ICD-Diagnoseklassifikationssystem herausgegeben. Nur die dort unter ICD 10 – Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) aufgeführten Diagnosen, die aus Symptomen abgeleitet werden, gelten als eine Störung mit Krankheitswert.
Leiden sind langanhaltende (chronische), häufig kaum oder gar nicht mehr therapeutisch beeinflussbare Funktionsstörungen.
Körperschäden sind irreparable Veränderungen des Zustands oder der Funktion des Körpers, einzelner Organe oder Organteile, die keine Krankheit sind. Dazu zählen Taubheit, Blindheit, Sterilität oder Amputation eines Armes.
Weil Coaches weder an Körperschäden, Leiden, noch an psychischen Störungen, wie Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder Persönlichkeitsstörungen arbeiten, wird hier auch kein „Häkchen“ fällig.
Jetzt könnte man schlussfolgern, dass es sich damit auch nicht um Heilkunde im Sinne des Gesetzes handelt und der Coach also durchaus mit traumatisierten Menschen, z. B. als Integrationshelfer, arbeiten könnte. Allerdings betont Jari Hansen, dass die fünf Prüfpunkte um ein richterliches Korrektiv zu ergänzen sind, dass er als allumfassenden, sechsten Prüfpunkt bezeichnet. Demnach ist §1 (2) HeilprG dahingehend auszulegen, dass eine Ausübung der Heilkunde stets dann vorliegt, wenn die Tätigkeit ärztliche bzw. medizinische Fachkenntnisse erfordert und die „Behandlung“ gesundheitliche Schädigungen verursachen kann.
Dies bedeutet einerseits, dass für bagatellartige Maßnahmen, die nach den fünf Prüfpunkten eine Heilbehandlung darstellen (z. B. das Beseitigen von Hühneraugen), gar keine Erlaubnis benötigt wird. Andererseits heißt das, dass eine Maßnahme, die nach der Prüfung keine Heilbehandlung wäre (z. B. ein leistungsstärkendes Coaching), eine Erlaubnis erfordert, wenn die Gesundheit des Klienten dabei gefährdet wird. Das könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine traumatisierte Person aufgrund der als stresslösend empfundenen Coaching-Maßnahmen keine schulmedizinische Hilfe aufsucht oder diese verzögert wird.
Eine allgemeingültige und klare Grenze zwischen Verrichtungen, die eine Heilkunde darstellen und solchen, die dies nicht tun und deswegen erlaubnisfrei sind, lässt sich aufgrund der Vielfalt an Erscheinungsformen heilberuflicher Tätigkeiten nicht ziehen. Wie überall, wo das Gesetz Anwendung findet, muss auch hier bei der tatsächlichen Beurteilung die aktuelle Auslegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden.
Für Coaches, zumindest für jene, die keine Heilerlaubnis im Sinne des Heilpraktikergesetzes haben, ergibt sich damit eine juristisch unsichere Situation.
Wie geht es weiter?
Sinn und Zweck des Heilpraktikergesetzes ist es, die Vielfalt der Methoden zu fördern und zugleich Menschen vor unqualifizierter Hilfe und Gesundheitsgefahren zu schützen. Es gibt allerdings Versorgungslücken an psychotherapeutischen Leistungen, die wir meines Erachtens nur gemeinsam – Mediziner, klassische Psychotherapeuten, Heilpraktiker und qualifizierte Helfer – schließen können. Ich plädiere dafür, dass künftig psychotherapeutische Heilpraktiker mit Ärzten kooperieren dürfen und dass die regulatorischen und gesetzlichen Grundlagen so angepasst werden, dass professionelle Coaches, eingebunden als „Peer-Berater“, unser Gesundheitssystem in Zeiten der Not entlasten dürfen.
Dieser Artikel ist im Magazin Praxis Kommunikation, Heft 1, Februar 2020 (Junfermann Verlag) erschienen.